Esskastanie

Wer hat nicht schon in den Wintermonaten im Stadtzentrum den köstlichen Duft wahrgenommen, wenn man an einem Marronistand die frisch gerösteten Nüsse auf einem Grill erspäht.  Nicht immer kann man dem Kauf einer Portion widerstehen. Schön warm fühlen sich die Früchte in der Hand an und wenn möglich, verspeist man sie sofort. Süß, trocken und nahrhaft sind sie, gerade das, was man an kalten Tagen gebrauchen kann.

Die Esskastanie ist tatsächlich eine Nuss und der Baum gehört zu den Buchengewächsen (Fagaceae). In diesem Jahr 2018 ist die Esskastanie (auch Edelkastanie oder Marronibaum) zum Baum des Jahres gekürt worden.  Diese Ehre hat sie längstens verdient.  Wer früher in Notzeiten für jedes Mitglied in der Familie einen Marronibaum hegte, konnte dank seiner vielen Gaben überleben.

Das Holz des Baumes ist ein Hartholz

Die Kleinbauern pflegten jeweils einen Esskastanienhain und rodeten unter den Bäumen alles frei. Nur Gras ließ man darunter wachsen, das die Schafe oder Ziegen als Weide nutzten und kurz hielten.  Das fallende Laub gab man ihnen im Stall als Einstreu oder man pflegte damit Jutesäcke abzufüllen, die dem Menschen zum Schlafen als Matratze dienten.  Das Holz des Baumes ist ein Hartholz und diente unter anderem zum Feuern, als Pfosten für Zäune, als Balken für den Dachstock, der mit Granitsteinplatten gedeckt wurde und war beliebt für Tür-und Fenstergericht, Bodenplanken, Balkone und Pergolen. Die Verwendung kannte keine Grenzen und ist auch heute noch spektakulär. Da das Holz eine enge Wachstumsringdichte aufweist, die von der Festigkeit des Hartholzes zeugt, hat es zum Heizen einen sehr guten Brennwert.

Der Baum kann mehr als 10m hoch werden und, wenn er gesund bleibt, ein hohes Alter erreichen. Erst im zehnten Wachstumsjahr fängt er mit der Fruchtbildung an. Aus Asien ist er eingeführt worden, wo man ihn schon seit der Steinzeit nutzte. In südlichen Ländern Europas hat er sich schon vor 2000 Jahren breit gemacht und später gelangte er auch nördlich der Alpen in die Weinbauregionen. Er bevorzugt an seinem Standort leicht sauren Boden.

Überwiegend wird der Kastanienbaum windbestäubt

Faszinierend ist die Blütezeit (Juni). Die bewaldeten Gegenden, wo die Esskastanie vorherrscht (z.B. im Tessin), sind dann in einen speziellen Duft eingetaucht, dem man sich eine Zeitlang nicht entziehen kann. Botanisch ist er als einhäusig höchst interessant, aber selbst kann er sich nicht befruchten. Überwiegend wird der Kastanienbaum windbestäubt, was kein Problem darstellt, weil selten ein Kastanienbaum allein steht. Die ganze Luft über den Tessiner-Tälern ist in der Blütezeit mit Blütenstaub gesättigt. Eine Befruchtung durch Insekten, überwiegend Bienen, findet aber auch statt.

Mit Argusaugen habe ich jedes Jahr im Tessin nach Bienen auf seinen zahlreichen Büscheln von Blütenkätzchen Ausschau gehalten, aber nie konnte ich ein Insekt erspähen. Offenbar war die Zahl der Bestäuber im Gegensatz zu dem Überangebot der Bäume zu klein. Diese große Blütentracht gibt dem Tessiner Honig seinen besonderen, etwas bitterlichen Geschmack. Liebhaber möchten ihn nicht missen.

Bienen über Bienen!

Am 10. Juni 2018 entdeckte ich mitten in meinem Wohngebiet in Zürich einen riesigen Esskastanienbaum. Warum war er mir früher nie aufgefallen? Seine ganze Baumkrone stand jetzt in voller Blüte, deren Üppigkeit bis über den Bürgersteig mit wogenden Ästen im Wind sich ausbreitete. Noch bevor ich ihn aber erblickte, wurde ich durch den Duft (Trimenthylamin), den das Lüftchen herübertrug, seiner gewahr. Hier fand ich an einem einzigen, aber stattlichen Marronibaum, wonach ich schon lange Ausschau gehalten hatte: Bienen über Bienen!

Welch schwieriges Unterfangen, hier vor Ort ordentliche Aufnahmen zumachen! Alles war in Bewegung. Viele Bienen, aber auch Schwebfliegen und Wildbienen veranstalteten einen Wuseltanz auf den langen Blütenkätzchen. Obschon der Wind durch die Äste zog und der Straßenverkehr Lärm verursachte, konnte ich das Gesumme der Bienen gut wahrnehmen. Dieses Ereignis, ausgerechnet hier auf der Alpennordseite, hätte ich nicht im Traum erwartet!

Ich gestehe, dass ich mir einen Blütenast abbrach und ihn zu Hause in meine Gießkanne  steckte. Hier, im eigenen Garten, konnte ich das Insektentreiben auf diesen sonderbaren Blüten viel besser beobachten und bildlich festhalten.  Zu meinem Erstaunen erkannte ich, dass Bienen an den männlichen Kätzchen, die bis zu 18cm Länge aufweisen, zuweilen den Rüssel ausfuhren und auf Nektarien trafen, an denen sie sich labten. Etwa bis zu 40 köpfchenartige Teilblütenstände stehen auf diesen Rispen, wovon jedes Köpfchen wieder aus sieben Einzelblüten besteht. Die weiblichen Blüten, die in Zweier- oder Dreiergruppen in einem schuppigen Fruchtbecher beieinander stehen, sind eher unauffällig.

Warum muss man Marroni sofort verarbeiten?

Auf meinem Grundstück im Tessin steht auch ein Marronibaum, den wir sogar veredeln ließen,  um große Früchte zu erhalten. Wenn die Esskastanien fallen, springen meistens ihre Schalen (Igel) auf und mehrere glänzende Früchte kullern heraus. Es sind meistens zwei bis drei gute Nüsse beisammen, aber ich zählte auch schon bis zu sieben in einer Schale. Einmal eingesammelt, muss man sie schnell verarbeiten. Entweder friert man sie gleich ein, oder kocht sie mit der Schale in Wasser gar, um davon Marronipaste für Vermicelles herzustellen. Am besten aber röstet man sie gleich im Backofen, über dem Feuer oder in der Pfanne und genießt sie mit etwas Butter, Quarkspeise und Apfelmuss. Die Bauern trocknen die Esskastanien durch tagelanges Räuchern. Aus ihnen wird dann Mehl gemacht oder sie werden als Beigabe zu Rotkraut und anderen Gerichten serviert. Auch kandierte Früchte (Marroni glacée) werden als Delikatesse im Handel angeboten.  Warum aber muss man Marroni sofort verarbeiten? Die meisten Nüsse enthalten Würmer vom Kastanienwickler, die beim Abfallen noch so winzig sind, dass man sie praktisch nicht sieht. Überlässt man die Kastanien eine Weile sich selbst, dann kommen schon bald dicke fette Maden herausspaziert, welche die Kastanie ungenießbar machen. Der Bauer hält seine Kastanienhaine stets mit abgegraster oder gemähter Wiese sauber, so ist das Aufsammeln der Nüsse ein Leichtes,  die Igelschalen aber müssen täglich zusammengerecht und später verbrannt werden. So ist die Erntezeit eine Herausforderung für die ganze Familie.

Besonders interessant und auffällig war der Verjüngungsschnitt

Im Bergell bei Soglio hatte man die Kastanienhaine früher verwildern lassen. So konnten wir in unseren Ferien zur Erntezeit ungestört unter den Bäumen im Gebüsch die Marroni aufsammeln. Plötzlich besannen sich die Besitzer aber eines Besseren und legten die alten, ehrwürdigen Marronibäume wieder frei.  Verteilt in diesen gepflegten Wäldern traten auch die kleinen alten Steinhäuser (Cascine) wieder zutage, wo die Besitzer der Kastanienhaine zur Reifezeit der Nüsse auch bescheiden wohnen können und ein schwelendes Feuer unterhalten, um die Esskastanien zu trocknen. Die Grundstücke wurden eingezäunt und sind somit nicht mehr für Sammler zugängig. Besonders interessant und  auffällig war der Verjüngungsschnitt, den die Besitzer an dem alten Baumbestand vorgenommen hatten.  Die Stämme wurden von allen kleinen Asttrieben befreit und die Hauptäste soweit zurückgeschnitten, dass sie in etwa vom Stamm weg nur noch eine Länge von ein bis zwei Metern aufwiesen. Wie Sprossenleitern sahen die Bäume aus! So konnte ich beobachten, dass ein Jahr später zuerst viele junge Triebe ausschlugen, wovon sich die Stärksten dann im Laufe der Jahre durchsetzten und wieder eine stattliche Baumkrone bildeten.

Meinen Esskastanienbaum habe ich darum auch so zuschneiden lassen, musste aber drei Jahre abwarten, bis sich auch hier der Erntesegen wieder einstellte.

Die Edelkastanie ist wahrlich ein Baum von imposantem Wuchs und hohem Alter, von großem Nutzen für Mensch und Tier! Wildschweine, Reh und Hirsch, Dachs, Marder, Eichhörnchen, Mäuse und kleinstes Getier wissen ihre Nüsse auch zu schätzen und tragen vereinzelt zur Vermehrung der Esskastanie bei.